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16.08.2014
Kategorie: 2014/2015, 1.Mannschaft, DFB-Pokal
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Von: Lenny

DFB-Pokal, 1. Runde: FSV Mainz 05


Es fehlen Worte. Es herrscht Sprachlosigkeit. Über das, was geschehen ist. Nach 90 Minuten. Nach 120 Minuten. Im Elfmeterschießen. Der Kraftklub wirft nach einem wahnsinnig geilen Spiel den Bundesligisten FSV Mainz 05 aus dem DFB-Pokal und erreicht die zweite Runde von eben diesen. Die Chronologie: Zwei-Tore-Rückstand, Ausgleich, erneuter Rückstand, wieder der Ausgleich, endlich die Führung, der Ausgleich, die Führung, der nächste Ausgleich. Der Chemnitzer FC gewinnt vor mehr als 10.000 Zuschauern auf der „Baustelle Fischerweise“ dann im Elfmeterschießen mit 10:9. „Das Wunder ist des Glaubens liebstes Kind... Noch fünf Siege bis Europa!“ - Eine Bestandsaufnahme.

Zwei Stunden vor dem Anstoß war der Edeka-Parkplatz bereits bestens gefüllt. Euphorisierte Himmelblaue wuselten über das Areal, tranken, redeten, kauften – unter anderem Szene-Shirts aus dem Hause „Gate Six“, „Tradition stirbt nie!“ und „Contra Cultura Chemnitz“, die, insgesamt etwas mehr als 500 Stück, nach nicht einmal einer halben Stunde allesamt vergriffen waren. Diejenigen die später kamen, hatten Pech, zumindest in diesem Moment, denn es werden – aufgrund der hohen Nachfrage – weitere produziert. Mit Recht!

Die Zeit tickte allmählich dem ersten DFB-Pokalspiel seit zwei Jahren entgegen, der Mob machte sich frühzeitig auf den Weg ins Stadion an der Gellertstraße, auf die Baustelle, wo letztlich mehr als 10.000 Zuschauer zugegen sein sollten. Der Großteil stand in der neuen, komplett geöffneten Südkurve und frenetisch hinter der Mannschaft, die als Spitzenreiter der 3. Liga sich mit breiter Brust dem Duell gegen den Bundesligisten aus Mainz, der mit dem Europa-League-Ausscheiden den ersten Rückschlag in der jungen Saison hinnehmen musste, stellte.

Als Intro präsentierte die beeindruckende „himmelblaue Wand“ eine Schalparade, ehe man danach im Zentrum mit Doppelhaltern sowie großen und kleinen Fahnen wedelte. Abgerundet wurde die einfache Aktion mit Kassenrollen, abgegeben aus einem Shooter, und der Buchstabenkombination unmissverständlichen Buchstabenkombination: „Kämpfen und Siegen!“. Die 500 Mainzer – und das ist der große Vorteil eines kleinen Gästeblocks – standen kompakt und füllten ihren Sektor mit Schwenkfahnen und ebenfalls Doppelhaltern aus, ehe zwei Capos den Takt vorgaben, auf den anschließend sehr viele hörten. Die Mitmachqoute war somit entsprechend hoch, die gewählten Lieder einfach und kurz, die Lautstärke solide, genau wie die Wahl der optischen Mittel. Irgendetwas war dauerhaft im Einsatz.
Auf der Gegenseite hatten sich auch zwei Capos zur Aufgabe gemacht, den gesamten Block zu animieren. Ein schwieriges Unterfangen, welches im ersten Durchgang durchaus gut gemeistert werden konnte, trotz der großen Distanz zu den Außenbereichen. Bei knappen Gesängen zogen mehrfach alle mit. Es war brachial laut. Wenn das Dach noch dazu kommt, steht hier ein feiner Hexenkessel, der Eindruck hinterlässt, und welcher in der Lage ist, jedem Gast Paroli zu bieten.

Als die Pokal-Partie pünktlich von Schiedsrichter Ittrich aus Hamburg angepfiffen wurde, öffnete Petrus seine Schleusen und schickte unzählige Regentropfen auf die Erde. Für, zum Glück, nur wenige Minuten. Und beendete es mit Regenbogen. Auf dem damit pitschnassen Rasen war bis dato noch nicht viel passiert. Der Gast aus Mainz ging konzentriert zu Werke, lauerte auf Konter oder eine Chance, resultierend aus einem Fehler, stand hinten sicher, wohl wissend, dass der Gastgeber nicht ohne Grund die Tabelle der 3. Liga anführt. Man war vorgewarnt.

Bei den Himmelblauen gab Kehl-Gomez sein Startdebüt. Er ersetzte den verletzten Mauersberger, fungierte als Bundeglied zwischen Mittelfeld und Sturm. Der Rest der Startelf blieb im Vergleich zu den anderen himmelblauen Auftritten identisch. Gespielt wurde erstmals in chicen „Argentinien-Trikots“.
Die erste Chance erhielten die Gäste nach wenigen Minuten, ein Okazaki-Schuss konnte Pentke gerade noch über das Tor lenken. Kurz darauf hatten die Mainzer die nächste Möglichkeit, erneut stand Pentke richtig. Die erste Chance für den – vom Papier her gesehene – Außenseiter vergab Türpitz: Ein Schuss, ein Aufsetzer, eine Parade. So rasch die Torgefahr auf beiden Seiten kam, so schnell war diese schon wieder vorüber. In der Folgezeit schenkten sich beide Seiten nichts. Es war ein rastloses Spiel, mit Taktik. Auf den Rängen herrschte eine großartige Kulisse. Die neue Südkurve wächst – vor allem zusammen.

Nach 25 Minuten wurde es dort erstmals still – und die Cleverness der Mainzer Jungs um den neuen Trainer Hjulmand, der im Sommer Tuchel ersetzte, erkennbar. Conrad lässt sich narren, kann infolgedessen die Flanke nicht verhindern. Stenzel versuchte zu klären, produzierte allerdings einen Querschläger, welcher direkt bei Zimling landete. Annahme, 20-Meter-Schlenzer in den Winkel. Die Führung für den Favoriten, Pentke ohne den Hauch einer Abwehrchance. Die Gästefans mit Fäusten auf dem Zaun. „Auf geht’s Chemnitz, kämpfen und siegen!“ ertönte es derweil aus der Südkurve. Stimmung und Spiel blieben bis zur Pause auf einem guten, vor allem ausgeglichenen, Niveau. Es war auf ganzer Linie ein packender Pokal-Fight, welcher sich nach dem Seitenwechsel auf eine Art und Weise steigerte, womit sicherlich keiner gerechnet haben dürfte.

Mainz setzt nach 50 Minuten den zweiten Wie-aus-dem-Nichts-Nadelstich. Djuricic läuft aus der eigenen Hälfte los, wird in keinen Zweikampf verwickelt, passt auf Okazaki, der sich im richtigen Augenblick von seinem Gegenspieler löst, den genau getimten Pass aufnimmt und im direkten Duell mit Pentke diesen locker-leicht überwindet. 0:2 – Die Entscheidung?!
Zuvor hatte Türpitz den Ausgleich auf dem rechten Schlappen. Er verzog knapp. Pech und Glück liegen allzu oft dicht nebeneinander. Es war kurzzeitig mucksmäuschenstill auf der „Baustelle Fischerwiese“ geworden, doch direkt im Gegenzug hatte Lais einen genialen Einfall. Während sich die Mainzer Defensive noch sortierte, führte er den Freistoß gedankenschnell aus. Ein flacher Pass zu Fink, welcher den Ball kurz stoppte – und hinterher unhaltbar ins Eck schlenzte! Anschlusstreffer, der Mut machte, die Hoffnung wieder wachsen ließ. Vereinzelte Bierbecher flogen durch die Südkurve, einige Herren hingen auf dem Zaun, der Rest lag sich stadionweit in den Armen.

Zwei Minuten später, die Freude über den Anschluss war soeben verflogen und der Support begann aufs Neue: Ein langer Ball wird von Kehl-Gomez verlängert, Fink nimmt diesen mit, schüttelt die Mainzer Abwehrrecken ab – und vollendet aus einem schwierigen Winkel zum 2:2! Zum 2:2! Zum 2:2! In der Südkurve gibt es kein Halten mehr. Noch mehr Bierbecher fliegen durch Luft, noch mehr Menschen hängen auf dem Zaun. Freuen sich über den Ausgleich, begrüßen den Wahnsinn. Alles auf Anfang, das Spiel beginnt von vorn. Wer hätte das gedacht. Wir sind Chemnitz! Kurz Durchatmen, nachdem alle Dämme gebrochen waren. Kräfte mobilisieren, weitermachen. Die Meute motivieren. Mit mittlerweile vier Capos. Und das funktionierte, es wurde noch lauter, es wurde phasenweise atemberaubend laut, alle zogen gemeinsam am Strang der Sensation. Der Gästeanhang, der durchaus einen soliden Freitagabendauftritt hinlegte, hatte es folglich dezent schwer.

72. Minute: Lais leistete sich einen verhängnisvollen Fehlpass. Es folgte ein langer Pass in die Spitze, zu Brosinki, der für Koo auflegte. Dieser vollendete mit einem Sonntagsschuss. Der zweite im Spiel. Cleverness und Können paarten sich, erzielten das bittere 2:3. Die Entscheidung?! Mitnichten! Weiterhin. Vorher – das muss erwähnt werden – hatten die Mainzer glücklicherweise mehrere Hochkaräter vergeben. Das leere Tor wurde dabei unter anderem verfehlt, zudem landete ein Lupfer auf der Latte. Den Rest parierte Pentke, der damit die Seinigen am Leben, in der Partie hielt.
 
Die himmelblauen Fans gaben alles, wollten den Ausgleich. Heine reagierte, brachte erst Garbuschewski sowie kurze Zeit später Hofrath, für Lais und Ofosu. Ebenso Ziereis kam noch für Poggenberg in den dramatischen Pokal-Fight. Drei Wechsel, von denen sich zwei in der 87. Minute auszahlten. Der dritte sollte aber auch noch seinen Auftritt bekommen. Es musste irgendwie der Ausgleich her: Garbuschewski schlägt einen Diagonalball in die Spitze, zum unermüdlich rackernden Fink, welcher in seinem Rücken den heran eilenden Hofrath sieht und diesen elegant mit der Hacke einsetzt. Dieser flankt flach und straff in die Mitte – und findet in Bungert einen perfekten Abnehmer. Ein Eigentor zum Ausgleich, ins himmelblaue Glück, ins Reich des Wahnsinns. Meine Fresse! Was danach abging, ist unbeschreiblich unbegreiflich. Alle rasteten im Kollektiv aus, zelebrierten den Ausgleich exzessiv. Überall. Nicht im Nirgendwo. Einzig die Mainzer verstanden die Welt nicht. Nach 95 Minuten und einem weiteren Mainzer Aluminiumtreffer stand es – dessen ungeachtet – verdientermaßen 3:3. Es ging somit in die Verlängerung. Mit dem Wahnsinn, welcher noch lange nicht genug hatte.

Beide Trainer hatten bereits dreimal gewechselt. Die Herren auf dem Rasen mussten durchspielen, an ihre Schmerzgrenzen gehen, Krämpfe überstehen – und taten es. Der Kraftklub mit: Angriff ist die beste Verteidigung. Garbuschewski, Türpitz, wieder Garbuschewski – mit einem einfachen Doppelpass ist die linke Mainzer Seite ausgespielt, ein Blick, eine gefühlvoll Flanke auf Ziereis, der keine Mühe hat, den Ball via Flugkopfball über die Linie zu drücken. 4:3 für Chemnitz! Und nun waren alle-alle-alle außer Rand und Band. Die Sensation – und nach diesem Spielverlauf war es mehr als das – zum Greifen nah. 4:3! Für Chemnitz. Wahnsinn. Wahnsinn. Wahnsinn. Die Südkurve – ein Freudenmeer, genau wie die Gegengerade, die Nordkurve, die Tribüne. Noch 17 Minuten. Kämpfen, siegen, supporten.

Pause in der Verlängerung. Noch eine Viertelstunde. Beten, hoffen, bangen, Daumen drücken – und ein Türpitz-Foul zur Kenntnis nehmen, aus dem ein Freistoß resultiert, weit weg vom Tor, eigentlich harmlos. Nur waren die Himmelblauen einen Moment unachtsam, Unglücksrabe Bungert köpfte zum 4:4 ein, machte seinen Fehler wett, vor den Mainzer Fans, die daraufhin vor Freude durchdrehten, verständlicherweise. Wieder der Ausgleich! Was zum Teufel hat dieser verdammte Hitchcock heute Abend eigentlich alles in seinem Drehbuch stehen?! Noch zehn Minuten.

Die Zeit lief ab, das Elfmeterschießen drohte, die Himmelblauen liefen aber weiter, Meter für Meter, Kilometerweit, als ob es keinen Morgen geben würde. Pressing – nach so einem Spiel! – provozierte in der 119. Minute einen Fehlpass. Türpitz schaute, sah wie Garbuschewski in die Nahtstelle sprintete, ein perfekter Pass, eine Vorlage, zu Kehl-Gomez, der sich, um diesen zu erreichen, in den Ball warf, zu Boden ging, die Situation jedoch blitzschnell antizipierte, aufstand und mit seinem schwächeren linken Fuß den Ball am Mainzer Schlussmann Karius vorbeischob. 5:4! Superlative sind ein Scheißdreck, um das zu erklären, was in diesem Moment geschah. Bilder sagen mehr als 1.000 Worte. Hier, mehr denn je. Im Grunde genommen war es die Addition aus den Treffern zuvor. Es steigerte sich, die Intensität, die Freude, einfach alles. Nach einem famosen Kampf zwang der Chemnitzer FC den FSV Mainz 05 in die Knie. In der Südkurve drehte der Banner „Chemnitz international“ seine Runden. Noch drei Minuten. Nur noch drei Minuten. Wegen der Nachspielzeit.

Alle Himmelblauen warten auf den Schlusspfiff, dieser ist nah, Pentke hält den Ball, legt ihn ab, schießt ihn nach vorn, leider Gottes nicht hoch und weit, sondern flach, zum eingewechselten Geis, der die Pille stoppt und postwendend nach vorn drischt. Aus 55 Metern. Auf das Tor. Pentke kommt zu spät, kann den Einschlag nicht mehr verhindern. Er fliegt – umsonst durch die Luft. 5:5, der dritte Sonntagschuss an diesem Freitagabend. Wer hier und heute nicht verrückt wurde, ist selbst schuld. Abpfiff und kein Anstoß mehr. Elfmeterschießen. Mutige Helden werden gesucht.

Herzlichen Glückwunsch, denke ich, wenn ich einen Blick auf unsere Strafstoßbilanz der vergangenen Saison werfe. Wir haben – so oder so – nichts, aber auch gar nichts zu verlieren. Geschossen wird auf die neue Nordkurve, die noch nicht für Zuschauer freigeben ist. Ein vermeintlicher Nachteil?! Die Gäste beginnen. Ein vermeintlicher Nachteil?!

0:1 – Geis – Eiskalt verwandelt, Pentke entscheidet sich falsch!
1:1 – Garbuschewski – Vollspann in den Giebel, unhaltbar.
1:2 – Koo – Tänzelnder Anlauf, der sich beinahe gerecht hätte, Pentke noch dran, aber der Ball dennoch im Netz. Schade!
2:2 – Türpitz – Verladen, hoch unter die Latte geschlenzt.
2:2 – Jara – Pentke pariert ausgerechnet gegen den Spieler überragend, der schon bei der WM in Brasilien für sein Land Chile scheiterte! Vorteil Chemnitz.
3:2 – Hofrath – Kompromisslos. Außenriss. Unter die Latte gedroschen!
3:3 – Okazaki – Ab durch die Mitte!
4:3 – Kehl-Gomez – Verladen. Flach nach links geschoben.
4:4 – Brosinski – Unhaltbar, genau ins Kreuz!
5:4 – Der sichere Fink schoss ins linke Ecke, flach, platziert, unhaltbar.

Es war die Entscheidung, es war die Beendigung des Wahnsinns, es war der Beginn eines Jubels, der unbeschreiblich, grenzenlos, ausufernd war. THIS IS WHY WE LOVE FOOTBALL...

Die Spieler schwärmen aus wie Bienen, in Richtung Fink, eine große Jubeltraube findet und formiert sich. Auf den Rängen sieht es ähnlich aus. Jubel, Trubel, Heiterkeit. „Chemnitz international!“ wird am Zaun gehisst. Und man wartet geduldig auf die Helden, die das Wunder geschafft haben. Wie schon vor vier Jahren, nach dem Sieg gegen den FC Sankt Pauli in der ersten Runde, bekam Pentke das Megaphon in die Hand gedrückt und stimmte eine „Uffta“ an. Es war beeindruckend und grandios. Auf ganzer Linie.

Während auf Heimseite die Freude grenzenlos ist, brechen im Gästebereich Tumulte aus, man ist sich nicht einig, wie man mit den Versagern umgehen soll. Die einen lassen ihrem Frust freien Lauf, andere wollen reden, fragen, mit verständnisvollen Worten. Es kommt zwischen den beiden zu einem kurzen Schlagabtausch, der aber nichts daran ändert, dass der Mainz nur noch an einer Hochzeit, der Bundesliga, teilnehmen darf. Nach dem Ausscheiden in der Europa-League folgte der DFB-Pokal. Bittere Zeiten. Bei den Himmelblauen landen mit dem Weiterkommen fast 300.000 Münzen in der Vereinskasse, zu der, wenn der Gegner passt, noch mehr dazu kommen können.
Auch in der zweiten Runde wünsche ich mir den Schacht...


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